Montag, 24. November 2014

Pure Einbildung...

Erscheinung


   Er hatte sich immer auf sie verlassen können. Egal in welcher Situation er sich befunden hatte; er musste sich nur nach ihr umsehen und schon entdeckte er sie in einer Ecke. Meist stand sie sogar einfach nur hinter ihm. Er fand sie schön. Sie war sehr zierlich und hatte lange glatte Haare. Wenn sie mit ihm sprach, leuchteten ihre Augen in solch einer Intensität, dass es manchmal wirkte, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Es spielte absolut keine Rolle, wie verzwickt seine Lage war, sie sagte immer das Richtige. Er sprach gern mit ihr, sie hörte ihm immer zu und nickte bedächtig, bevor sie antwortete.
   Aber die Menschen um ihn herum verstanden nicht was sie sagte, verstanden nicht weshalb er mit ihr sprach. Sie hatte die Vermutung geäußert, dass die Menschen sie nicht verstehen wollten, weil sie Angst hatten für verrückt erklärt zu werden. Und dabei hatte sie wieder bedächtig genickt und ihre Augen hatten geleuchtet.
   „Bin ich denn verrückt, weil ich mit dir spreche?“, hatte er gefragt und es war das erste Mal, dass sie ihm nicht sofort eine Antwort gab.
   „Nein.“, hatte sie schließlich gehaucht. „Das bist du nicht.“ Und diesmal wie in Zeitlupe den Kopf geschüttelt.
   Doch die Zweifler in seinem Umfeld wurden immer zahlreicher und ihre Schreie immer lauter. Man empfahl ihm einen Psychiater und als er ihr die Visitenkarte des Arztes zeigte, erbleichte sie für einen Moment und dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Zum ersten Mal, seit er sie kannte.
   Sie gingen gemeinsam zu dem vereinbarten Termin und als sie den Behandlungsraum betraten, legte sie sich demonstrativ auf die obligatorische Couch. Der Psychiater war in jeder Hinsicht ein korrekter Mensch. Er begann das Gespräch auf eine professionelle, lockere Art und sprach zunächst nur über unverfängliche Dinge. Sie lag da, beobachtete ihn und lächelte geheimnisvoll.
   Als er schließlich nach ihr gefragt wurde, begann sie zu sprechen:
   „Er glaubt dir nicht!“
Ruckartig wandte er den Kopf zu ihr und fixierte ihre funkelnden Augen. Langsam setzte sie sich auf und starrte dabei unentwegt zurück.
   „Weshalb? Ich habe ihm doch noch gar nichts über dich erzählt.“
   „Aber er sieht mich nicht. Will mich nicht sehen.“, lautete ihre Antwort.
   „Woher willst du das wissen?“
   „Er blickt mich nicht an und während wir sprechen, macht er sich die ganze zeit Notizen, als seist du irgendein Individuum, dessen Verhalten ihm unbekannt und eine Sensation ist.“
   Er blickte auf und tatsächlich war der Psychiater gerade dabei, seine Unterschrift unter ein Rezept zu setzen. Danach sah er ihn an, lächelte professionell und reichte ihm das Papier über den massiven Schreibtisch.
   „Bitte holen Sie sich das Medikament noch heute ab. Es wird ihnen gut tun und helfen!“
Verwundert nahm er es entgegen und machte sich auf den Weg.
   „Tu es nicht, ich bitte dich!“, sagte sie zu ihm.
   „Weshalb? Er sagte, es würde mir gut tun!“
Daraufhin schwieg sie und zog sich zurück.
   Abends saß er auf der Bettkante und drehte die kleine Tablette zwischen seinen Fingern. Sie stand in der Ecke und starrte ihn an. Schnell schluckte er das Medikament herunter und trank einen Schluck Wasser.
   „Komm zu mir ins Bett.“, bat er.
   Sie nickte und eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab. Dann schmiegte sie sich an ihn und beruhigt schlief er ein.


   Am nächsten Morgen wachte er auf und fühlte sich anders als sonst. Er war nun wie die Anderen geworden, denn egal wie stark er sich konzentrierte, er sah sie nicht mehr. Als er sie rufen wollte, ging ihm auf, dass er nicht einmal ihren Namen wusste. All die Jahre hatte er nie danach gefragt. Nun fühlte er sich orientierungslos, doch die Tabletten halfen ihm, sich daran zu gewöhnen. Und plötzlich war er wie alle Anderen. Allein.

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