Freitag, 2. Oktober 2015

Herzblut

Es ist viel zu lang her, dass ich einen Text wie diesen geschrieben habe, also zwang ich mich heute dazu, mich auf den Hintern zu setzen und mal wieder etwas zu schreiben... Mir gehen seit einiger Zeit sehr viele Sachen durch den Kopf. Das liegt einerseits daran, dass ich selbst einen überaus schmerzlichen Verlust zu verwinden habe und andererseits erhalte ich seit einiger Zeit einen intensiven Input zum Frühstück! *Vielen Dank dafür!*
Wie dem auch sei, hierher gehört nichts privates und ich möchte niemanden mit meinen bruchstückhaften Gedanken langweilen, also kommt hier endlich wieder eine Kurzgeschichte, welche bereits vor einiger Zeit unter anderen Umständen entstanden ist. Ich hoffe, sie gefällt und ich freue mich über Rückmeldungen jeder Art! Viel Spaß!


Vom Vorhandensein


   Er sitzt in seinem Kinderzimmer und starrt die Bauklötze aus Holz an. Sie liegen in einem bunten Haufen vor ihm auf dem Teppich. Er liebt es mit ihnen jeden Tag etwas neues zu bauen, doch heute wollen die Steine sich nicht zu einem neuen bunten Haus zusammenfinden. Er dreht einen Stein in seinen kleinen Händen und beginnt vor sich hin zu träumen, driftet ab und taucht ein in seine eigene kleine Welt.
   Dass die Wolken vor seinem Fenster die Sonne verdunkeln, stört ihn nicht. Er sitzt im Dämmerlicht und dreht den Bauklotz in seinen Händen. Dabei sieht er fast etwas verloren aus, als ich das Zimmer betrete und eine zärtliche Wehmut mich ergreift. Ich gehe neben ihm auf dem Teppich auf die Knie und streiche ihm über die kurzen, hellen Haare. Er blickt auf und wieder einmal empfinde ich, dass seine großen blauen Augen viel zu alt für einen 4-Jährigen sind.
   Er schaut mich an und sein Blick wird wieder so intensiv, dass ich lächeln muss und mich abwende, um zu verhindern, dass er sieht wie ich jedes Mal erschrecke. Ich kann nicht anders, ich breite die Arme aus und er stürzt sich regelrecht hinein und schmiegt sich an mich. "Wo warst du wieder in deinen Träumen, was hast du gesehen?", frage ich mich und streiche über seinen Rücken. Als ich den Kopf senke, um sein Haar zu küssen, stelle ich wieder fest, wie gut er riecht. Er steckt im Körper eines Kindes, aber seine Seele ist viel älter. Ich sehe es in seinen Augen und es macht mir Angst. Er weiß es und ich wiederum spüre, dass es ihn nicht in Ruhe lässt.
   "Was hast du schönes gespielt, mein Schatz?", frage ich leise und drücke sanft seinen Kopf gegen mein Brustbein. Er kuschelt sich noch näher an mich und schweigt einige Sekunden, bevor er antwortet. Einmal hat er mir erzählt, dass er in solchen Momenten lauscht, wie mein Herz schlägt.
   "Ich habe nachgedacht, ob ich überhaupt vorhanden bin.", flüstert er.
   Da ist er wieder! Der Beweis, dass mein Sohn, mein geliebtes Kind kein Kind mehr ist. Seine Kindheit, die Zeit, die doch die Schönste im Leben eines Menschen sein soll, ist bereits nach 4 Jahren unwiederbringlich vorbei. Und ich? Welche Rolle spiele ich noch dabei? Was für eine Mutter bin ich, dass ich nicht einmal mein Kind beschützen kann?! Jeder Mensch hat nur einmal die Illusion, dass die Welt gut und die eigene Situation sorgenfrei ist und seine ist jetzt schon verloren. Urplötzlich schießen mir die Tränen in die Augen. Nicht nur, weil er mich so sehr an seinen Vater erinnert, sondern weil mir immer mehr bewusst wird, dass mein Sohn ein Genie ist. Aber zu welchem Preis?!      Er ist ein tragisches Genie...
   Ich muss mich zwingen zu antworten. Ich bin seine Mutter, ich muss auf ihn aufpassen, ihn führen und auch endlich wieder ein Lächeln in sein wunderschönes kleines Gesicht zaubern. Die ersten Tage nach der Katastrophe  konnte ich ihm nicht einmal in die Augen schauen, ohne hemmungslos in Tränen auszubrechen. Mittlerweile sind keine Tränen mehr übrig. Wenn ich nun weine, dann stumm und trocken. Ich habe einmal gehört, Tränen seien die Möglichkeit der Seele, zu bluten. Ist meine Seele nun ausgeblutet?!
   Jäh wird mir bewusst, dass er immer noch in meinem Arm sitzt und auf eine Antwort wartet und ich zwinge mich zu einem Lächeln und sage:
   "Mein Liebling, wie kommst du denn darauf, dass du nicht vorhanden bist?"
   "Yelon ist mein Freund, aber ich bin der Einige, der ihn sehen kann und mit ihm spricht. Also ist er nicht wirklich vorhanden. Ich habe ihn mir ausgedacht, weil ich Angst hatte."
   Mein Lächeln erstirbt.
   Er hat mir schon einige Male Yelon beschrieben und grob zusammengefasst sieht er ihn als einen ziemlich großen, kuscheligen, sprechenden Hund. Dieser Fantasie-Hund war in gewisser Weise auch eine Illusion für mich, denn er war eines der letzten Überbleibsel der Kindheit meines Sohnes. Aber jetzt?!
   "Und warum bist du dann ausgedacht?", komme ich nicht umhin zu fragen und seine Antwort kommt prompt und erbarmungslos:
   "Du bist die Einzige, die mich sieht und  mit mir spricht. Papa kommt nicht wieder und du hast dir mich nur ausgedacht, weil du auch Angst hast, allein zu sein."
   Ich fühle mich, als würde ich in zwei Teile gerissen. Der Schmerz über meinen Verlust überkommt mich wieder unkontrolliert und noch schlimmer ist, mir immer bewusst ist, dass sein Schmerz und das Trauma seine komplette Welt ausfüllt. Er kennt kein anderes Bild mehr als das seines sterbenden Vaters. Und doch scheint mir sein Gedanke so erschreckend real und aber auch absurd zugleich, dass ich einen kurzen Moment dagegen ankämpfen muss, nicht wie eine Wahnsinnige loszulachen.
   Doch ich kann es mir jetzt nicht leisten zu zerbrechen. Ich habe eine Aufgabe und neben ihr kann nichts anderes mehr existieren. ER ist jetzt mein Ein und Alles!
   Ich beschließe, ihn erstmal ein wenig zu beruhigen.
   "Hat Yelon denn einen Freund, den du nicht sehen kannst?", frage ich.
   "Nein, Yelon ist mein Freund.", antwortet er zögerlich.
   "Also wenn du dir Yelon nur ausgedacht hast und Yelon sich selbst niemanden ausdenken kann, weil er dein unsichtbarer Freund ist, kannst du nicht mein unsichtbarer Freund sein. Du musst also vorhanden sein!"
   Das gibt ihm jetzt erstmal ein wenig zu denken und es hilft. Er wird ruhiger.
   "Ich verspreche dir, mein Schatz, bald werden auch wieder Andere mit dir sprechen!"
   Dass dies meine größte Angst ist, verschweige ich.Darum muss ich mich selbst kümmern. Meine Sorge besteht darin, dass sie ihn nicht verstehen oder ihn mir gar wegnehmen, um ihre Untersuchungen mit ihm anzustellen. Davor muss ich ihn beschützen.
   Ich blicke auf und bemerke, dass es draußen bereits komplett dunkel geworden ist. Seine Atmung wird immer ruhiger; ich wiege ihn sanft und summe leide vor mich hin, als sein er ein normales Kind und ich seine normale Mutter. Doch auch für verletzte Seelen hilft es manchmal so zu tun, als sei man normal. Er schläft ein und ich trage ihn vorsichtig in sein Bett.
   Die Wohnung ist gespenstisch still, ehe ich die Tür zu seinem Kinderzimmer schließe, fällt mein Blick auf die Bauklötze und ich frage mich, was er wohl morgen bauen und denken wird. Und die dunkle Angst vor dem Tag, an dem ich ihn nicht mehr beruhigen kann, regt sich in einer Ecke meines Bewusstseins.

Samstag, 3. Januar 2015

Oxygen

Er versuchte verzweifelt zu Atem zu kommen, doch das Wasser drückte unerbittlich auf seinen Brustkorb, presste seine Lunge zusammen und drang unaufhaltsam durch Nase und Mund in seinen Körper ein. Er wollte schreien, doch stattdessen sah er das letzte bisschen kostbaren Sauerstoff aus seinem Mund entweichen und als silberne Blasen durch das dunkle Wasser davon treiben. Die Ränder seines Blickfeldes begannen bereits zu verschwimmen. Sein Gehirn brauchte dringen Sauerstoff und auch jeder einzelne Muskel seines Körpers schrie nach diesem simplen Molekül.
Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, eine verzweifelte Maßnahme seines Körpers, sein Gehirn vor Schäden durch Sauerstoffmangel zu schützen. Sein Zwerchfell barst schier durch den nie enden wollenden Reflex, das eindringende Wasser durch Husten los zu werden, doch es war zwecklos. Er spürte ein immer stärker werdendes heißes Brennen, das sich gegen die unerbittliche Kälte des Wassers durchsetzte. Er wusste genau was das bedeutete. Der Anteil der Milchsäure in seinen Muskeln war nun so hoch, dass es mehrere Liter reinen Sauerstoffs gebraucht hätte, um ihn zu retten. Aber dafür hätte er erst einmal an die Oberfläche zurück finden müssen.
Er war dem Tode geweiht und während ihm das bewusst wurde, spukte eine für ihn sinnlose Phrase durch seinen Kopf. Der Druck und Mangel taten ihr Übriges. Das Bild vor ihm verschwamm und seine Augen trübten sich.
Eine einzelne silberne Blase löste sich von seinen blauen Lippen und tanzte der glitzernden Wasseroberfläche entgegen.Dort angekommen löste sich jene beinahe wundersame Blase mit einem kaum hörbaren "Plopp" auf und die Moleküle vermengten sich mit dem Gasgemisch der Atmosphäre. Und keine der Personen, die eines dieser Moleküle einatmete und durch ihren Körper tanzen ließ, dachte auch nur eine einzige Sekunde daran, dass es einst der letzte verzweifelte Atemzug eines Sterbenden gewesen war.