Kapitel 3

  Cat saß im Schneidersitz auf Jakes Couch und seufzte resigniert. Seit Stunden brütete sie über dem mittlerweile ziemlich abgegriffenen Stück Papier und durchforstete ihr Hirn nach Hinweisen darauf, wo sie diese Zeichen bereits einmal gesehen hatte. Doch das Einzige, was dabei herausgekommen war, waren die unerträglichen Kopfschmerzen. Sie hatte auch bereits darüber nachgedacht, zurück in den Park zu der hohlen Eiche zu gehen, wo ihr der Text sozusagen vor die Füße gefallen war. Doch Jake hatte für ein paar Stunden ins Büro gehen müssen und sie wollte keine zufällige Begegnung mit ihren Eltern riskieren und so war sie gezwungen gewesen, sich eine andere Beschäftigung zu suchen, doch die Runen hatten ihr keine Ruhe gelassen.
  Plötzlich horchte sie auf. Sie glaubte an der Wohnungstür etwas kratzen zu hören. Adrenalin durchströmte sie, als sie sich leise erhob und barfuß in den Flur huschte. Tatsächlich hörte es sich so an, als würde ein spitzer Gegenstand mit Gewalt über den Lack der Tür gezogen. Sie wagte sich noch näher an die Tür und schaute vorsichtig durch den Spion. In diesem Moment brach das Geräusch abrupt ab. Draußen war niemand zu sehen, aber Cat fühlte sich unwohl.
  Sie wartete weitere Minuten, doch nichts tat sich. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und mit einem Ruck riss sie die Tür auf.
  Draußen war alles still. Das Treppenhaus lag ruhig im Sonnenlicht, welches durch die Fenster herein fiel und Staub tanzte in den Sonnenstrahlen. Beruhigt schob sie die Tür wieder zu, als sie plötzlich erstarrte. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen.
  In den weißen Lack der Tür waren mit gekonnten Linien dunkel dieselben Runen geritzt worden, wie sie auf dem Papier zu sehen waren. Entsetzt taumelte sie einen Schritt zurück und stand nun in den Sonnenstrahlen des Treppenhauses, als sie einen Stich an ihrem linken Handgelenk. Als sie herumfahren und dem Schmerz ausweichen wollte, verschwamm alles vor ihren Augen und sie fiel willenlos und wie gelähmt in die samtene Schwärze, die sich um sie ausbreitete und sich kalt an ihre Haut schmiegte.

  In dem Moment, in dem Jake den Wohnkomplex betrat legte sich ein kaltes Unbehagen über ihn, wie Raureif. Er hatte sich im Büro beeilt, um möglichst schnell wieder zurück zu können. Ihm war nämlich eine Idee gekommen. Doch diese Idee verflüchtigte sich wie eine zerplatzte Seifenblase, als er den obersten Treppenabsatz erreichte und das Bild realisierte, dass sich ihm bot.
  Durch das Geländer hindurch sah er, dass sie Wohnungstür offen stand. Erst auf den zweiten Blick sah er die schwarzen Linien, welche unheilvoll von dem weißen Lack der Tür hervorstachen. Entsetzt sprang er die letzten Stufen hinauf und sah sie.
  Ihre roten Haare lagen wie ein Kranz ausgebreitet auf dem Boden und rahmten ihr Gesicht sonderbar grotesk ein. Ihre Haut war totenbleich, die Augen geschlossen, lag sie seltsam verdreht vor der Tür, als hätte sie im Fallen eine Pirouette gedreht. In ihrer Rechten hielt sie einen dunklen, spitz zulaufenden Gegenstand.
  Als er an ihrem Kopf hinkniete, um zu sehen, was ihr fehlte, entdeckte er ein seltsam verwundenes Muster aus schwarzen Linien an ihrem linken Handgelenk. Die Haut darum war gerötet, der einzige Hinweis darauf, dass Blut durch ihren Körper floss, dachte er bitter. Er beugte sich zu ihr hinunter und stellte mit einer unendlichen Erleichterung fest, dass sie flach atmete.
  Er zog sie vorsichtig auf seine Arme und trug sie in die Wohnung. Dort legte er sie auf die Couch und ging zur Wohnungstür. Einer plötzlichen Eingebung folgend nahm er sich seine Kamera und fotografierte die eigenartigen Runen. Dann schloss er die Tür sorgfältig ab und ging zu Cat.
  Er schob ihr ein Kissen unter und breitete die Decke auf ihren Beinen aus. Ihr Anblick schmerzte ihn. Sie sah so bleich aus, noch viel zerbrechlicher als gestern. Er dachte an die vergangenen Stunden zurück und war erstaunt, dass in so kurzer Zeit so viel geschehen kann, was die eigene Welt so derart aus den Fugen geraten lässt. Nervös stand er auf, kochte in der Küche Tee, rückte sich den Sessel an der Couch zurecht und hielt Wache.


  Etwas schlich sich in ihr Bewusstsein und störte den Frieden ihres Schlafes. Verärgert versuchte sie das Gefühl beiseite zu schieben, doch es funktionierte nicht. Sie konnte sich an kaum das erinnern, was sie getan hatte, bevor sie zu Bett gegangen war. Wie spät war sie eigentlich eingeschlafen? Und wie spät war es jetzt? Sie wollte die Augen öffnen, doch ihre Lider waren so unglaublich schwer und brannten, als hätte sie stundenlang mit offenen Augen geschlafen.
  In diesem Moment tauchte ein Bild von Jakes Wohnungstür vor ihren Augen auf und sie erinnerte sich, dass er gegangen war, um etwas zu erledigen. Sie war allein in der Wohnung geblieben... Allein. Dieses eine Wort legte sich wie ein massives Gewicht um auf ihren Körper und ihr Gemüt. Diese Melancholie drohte sie wieder zu lähmen, doch mit einem jähen Aufbranden von Zorn holte sie tief Luft und riss die Augen auf.
  Sie fand sich überrascht knapp von Jakes Gesicht entfernt wieder. Er hatte ihren Kopf auf seinen Oberarm gebettet und den anderen Arm wie zum Tanz um ihre Taille gelegt. Hinter seinem dunklen, vom Schlaf strubbeligen Haar sah sie den Terrakotta-farbenen Bezug seiner Couch in der Sonne leuchten. Ein Schauer überlief ihren Rücken, doch so sehr sie sich auch gegen die Gedanken wehrte, sie konnte nicht leugnen, dass es sich gut anfühlte.
  Sie musterte sein Gesicht, er schlief noch. Seine Züge waren fein, und doch durchzog eine eisige Härte seinen sonst so weichen Ausdruck und störte das Bild eines friedlich schlafenden jungen Mannes auf eine Art und Weise, die Cat sonderbar anzog. Seine dunklen Brauen und dichten Wimpern umrahmten seine Augen und gaben ihnen – das hatte Cat schon oft fasziniert bemerkt – einen eigenen Glanz, ganz abgesehen von ihrer intensiven Farbe. Doch nun sah sie nur seiner Lider, zart und verletzlich. Sie war ganz versunken in ihren Gedanken, als sich seine Hand an ihrer Seite plötzlich verkrampfte und sich sein Ausdruck verhärtete. Seine Lieder zuckten und die Unruhe ergriff seinen ganzen Körper.
  Unschlüssig,wie sie ihn beruhigen konnte, hob Cat den Kopf und beugte sich über ihn. Er schien regelrecht besessen von dem Albtraum zu sein, sein Atem ging nun viel schneller und er zuckte plötzlich so heftig zusammen, dass Cat erschrak und aufspringen wollte, doch stattdessen beugte sie sich zu ihm hinab und küsste ihn. Sie schloss die Augen und legte in Gedanken all ihre Kraft in den Kuss, um durch den atemlosen Traum zu Jake durchdringen zu können. Das Gefühl nahm ihr selbst den Atem, als sie spürte, wie sie seine warme Hand in ihrem Nacken stärker zu sich hinab zog.


  Er bewegte sich vollkommen lautlos. Die Straße, in die er einbiegen wollte war von so hohen Häusern umgeben, dass sie ganz im Schatten lag. Er lächelte, als er darüber nachdachte. Ein Kinderspiel! Es wäre vielmehr eine Herausforderung für ihn gewesen, wenn die Straße im silbernen Licht des nahezu vollendeten Mondes gelegen hätte. Aber selbst so eine Aufgabe zu meistern hätte er mit seinen Fähigkeiten geschafft.
Leise sprintete er weiter. Er durfte sich durch nichts ablenken lassen. Auch wenn der Auftrag einfach erschien, hing dennoch eine Menge davon ab und er durfte sich nicht den kleinsten Fehler erlauben. Im Kopf ging er erneut in einem nahezu unendlichem Mantra jeden einzelnen Schritt seiner Mission durch, während er, die Muskeln eisern angespannt, über einen Zaun sprang und sich an einem Fenstersims die Hauswand nach oben zog. Das Fenster war wie geplant nur angelehnt. Der Außendienst hatte gute Arbeit geleistet. Mit einer fließenden Bewegung schwang er sich hinein und fand sich in einer leeren Halle wieder.
  Ohne Probleme fand er die Türen, die ihn in das Treppenhaus und auf das Dach hinaufführten. Oben angekommen verharrte er kurz auf den vermoosten Dachziegeln des hohen Gebäudes und schaute auf das niedrigere Haus gegenüber. Dann überprüfte er die Festigkeit des Schneefanghakens und holte aus einer der unzähligen verborgenen Taschen seiner Kluft ein hauchdünnes, im Mondlicht silbern schimmerndes Seil hervor. Geschickt und mit sicheren, präzisen Griffen wob er daraus ein ein kunstvolles Netz und verankerte es an mehreren Haken, ehe der das andere Ende mit mehreren Schlaufen hinab auf das andere Dach warf und dort sicher einhängte. Dann nahm er einige große Schritte Anlauf und drückte sich mit einem leisen Knacken von der Dachkante ab. Mit einem einzigen eleganten Satz überwand er gut die Hälfte der Schlucht zwischen den beiden Häusern.
  Kurz bevor er fiel, griff er nach dem Gespinst, dass sich zwischen den beiden Häusern spannte. Zügig überwand er den Rest der Strecke und landete federnd auf dem Dach des kleineren Hauses. Nun musste er nur noch die richtige Stelle finden. In seinem Kopf begann erneut das Mantra seiner Vorgehensweise. Er schloss die Augen und bewegte sich blind über das Dach, voll darauf vertrauend, dass die Präzision seiner Bewegungen bis auf Millimeter genau trainiert war. Schließlich hielt er inne und öffnete die Augen. Vor ihm lag das Dach noch immer im silbernen Licht des Mondes.und bis auf eine kaum merkliche Unregelmäßigkeit, lag das Muster der Dachziegel wie konstruiert vor ihm.
  Er bückte sich und schob den ihm anvertrauten Gegenstand in den verborgenen Spalt zwischen den Ziegeln. Hier würde niemand danach suchen, es sei denn, der Suchende hatte gezielte Hinweise erhalten, wohin er sich wenden musste.
  Er holte tief Luft. Der erste Teil seines Auftrages war erledigt. Jetzt musste er aufpassen, dass sich nichts verzögerte. Die Folgen könnten katastrophal sein. Leichtfüßig lief er über das Dach und riss mit einem kräftigen Ruck an den Seilen, welche noch immer dort hingen, wo er sie befestigt hatte. Die Schlaufen an den Schneefanghaken des höheren Daches lösten sich und das Seil glitt durch seine Hände und fiel die Hauswand hinunter. Nun stand er mit dem Rücken zur Dachkante und genoss die folgenden Sekunden wie in Zeitlupe. Er atmete ein, packte das Seil und ließ sich rückwärts über die Kante in die Dunkelheit fallen.

  Staub, Regale, Bücher. Ein alter abgewetzter Sessel in einer der vielen Nischen mit Fenster, die den Raum wie eine mittelalterliche Kemenate wirken ließen. Das drückende Schweigen, welches sich um jeden legte, der durch die Flügeltür hereintrat. So hatte Cat die große Zentralbibliothek in Erinnerung. Sie war einige Male mit Jake hier gewesen und wusste immer nicht so recht, ob diese Stimmung etwas feierliches oder etwas bedrohliches haben sollte. Jake hatte nach einer kurzen Diskussion mit Eleni, der Bibliothekarin den Hauptraum verlassen und war über eine Wendeltreppe und durch mehrere Abbiegungen in einen kleineren Bereich auf der Galerie gekommen, in dem sich sämtliche Werke über die Runologie befanden. Als Cat die Regale erblickte, verließ sie der Mut. Sie hoffte inständig in den ersten Büchern einige Informationen über die seltsamen Zeichen zu finden, die sie allmählich zu verfolgen begannen.
  Sie waren schon eine Weile zwischen den Regalen hin und her gegangen und hatten die Bücher, welche am vielversprechendsten waren alle zu einem Tisch gebracht. Jake hatte sich mittlerweile hingesetzt und begann den Berg durchzuarbeiten. Cat war wieder zwischen den Buchreihen verschwunden und suchte weiter. Sie hatte sich einen langen Pullover anziehen müssen, um die mit schwarzer Tinte besiegelten Wunden an ihrem Handgelenk verstecken zu können, denn die Mullbinde, die sie darum gewickelt hatte, hatte die Blicke Anderer erst recht darauf gezogen.
  Als sie zwischen zwei Regalen hervortrat, die sie bereits abgesucht hatte, erhaschte sie einen Blick auf Jake und sie dachte an den Kuss zurück. Sie hatten nicht noch einmal darüber gesprochen, aber es schien ein unausgesprochenes Einverständnis zwischen ihnen zu geben, ihn – zumindest vorerst – nicht zu erwähnen. Aber etwas hatte sich zwischen ihnen verändert und beide spürten es. Er war in seine Arbeit versunken, also bog sie in die nächste Reihe Regale ab.
  Die Bücherthemen hatten hier offenbar den eurasischen Raum verlassen und Cat glaubte fast, hier keine weiteren brauchbaren Informationen zu finden, als sie einen Titel las, der sie innehalten ließ: „Der Ursprung inkaischer Runen“. Instinktiv griff sie danach und zog den alten Band von dem Brett. Sie überflog den Inhalt, aber die Kapitelüberschriften halfen ihr nicht weiter, also blätterte sie weiter bis zum Vorwort. Der Satzbau war langatmig und ineinander verschachtelt und obwohl ihre Konzentration schon lange nachgelassen hatte verstand sie allmählich, wonach sie suchen musste. Sie war so vertieft in den Text gewesen, dass ihr erst in diesem Moment auffiel, woher dieses seltsame Gefühl kam, dass sie seit einigen Minuten beschlichen hatte. Jemand beobachtete sie...
  Sie blickte überrascht auf, um nach der Person zu suchen und stellte fest, dass sie niemanden finden konnte. Weil das Buch in ihren Händen allmählich schwer wurde, ging sie hinüber zu Jake und legte es zuoberst auf den Stapel mit Abhandlungen. Er blickte nicht einmal auf, so vertieft war er in dem Text, der vor ihm lag. Gerade, als sie in den Gang zurückkehren wollte, in dem sie das Buch gefunden hatte, als sie ihn bemerkte.   Er saß in einem der alten Sessel und schien beinahe fließend in die Dunkelheit der Nische über zu gehen, wären da nicht seine Augen gewesen... Mitten in den Schatten seines Gesichts langen sie schimmernd wie Saphire. Das Blau war so eisig und klar, dass ihr für einen Moment der Atem stockte und sie beinahe vergessen hätte warum sie da stand. Er sah sie an, fixierte sie geradezu, doch niemand sonst schien ihn oder die Tatsache, dass er sie wie ein Besessener anstarrte zu bemerken.
   Verunsichert blieb sie stehen und blickte ihn an. Doch nach einiger Zeit löste sie sich auch ihrer Starre und bog wieder in die Regalreihe ein, in der sie noch weitere brauchbare Bände vermutete. Aber sie kam nur langsam voran, weil jedes Buch anders aufgebaut und die Schrift teilweise verblasst war. Allmählich verließ sie der Mut. Sie stellte das gefühlt hundertste Buch gerade wieder zurück ins Regal, als sie einen kalten Hauch im Nacken spürte und als sie aufblickte stand er neben ihr. Sie war so überrascht, dass sie das Buch fallen ließ. Doch mit einer geschmeidigen Bewegung fing er es auf und stellte es an seinen Platz zurück ins Regal.
   Cat war zu überrascht, um zu reagieren. Sie starrte ihn nur an und hatte das Gefühl ihn zu kennen, doch sie konnte sich an nichts erinnern. Seine Haut war ebenmäßig und sein Gesicht wirkte wie aus Marmor geschlagen. Eingerahmt wurde es von dichtem, schwarzem Haar. Doch am faszinierendsten waren seine Augen. Seine Miene schien steinern, während seine Augen beinahe leuchteten und sie anzulächeln schienen. Gerade, als sie zurück lächeln wollte, fuhr ein Stich in die Stelle am Handgelenk und im nächsten Moment sah sie sich wieder vor Jakes´ Wohnungstür und sie spürte erneut die panische Angst aufsteigen, die sie in diesem Moment befallen hatte. Sie schnappte nach Luft und riss die Augen auf, um die Erinnerung mit Macht zu verdrängen und es funktionierte zu ihrer Überraschung, aber auch er war verschwunden. Sie sah sich um, doch ihr war nur der Schmerz geblieben, der nun langsam ihren Unterarm hinaufkroch.
  Besorgt sah sie sich noch einmal um und ging dann langsam zu Jake zurück. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er gar nicht aufsah als sie an den Tisch herantrat. Erst als sie ihn mit brüchiger Stimme ansprach, blickte er – fast widerwillig – auf und sein Gesichtsausdruck änderte sich beinahe schlagartig.
   „Was ist los?! Ist etwas passiert?“
   „Das muss ich dir später erzählen. Ich habe nichts mehr gefunden.“
   „Du bist ganz blass, ist alles okay?“
Sie nahm die Hand vor die Brust und versuchte den Schmerz zu ignorieren, der ein eigenartiges Wärmegefühl unter dem Verband hinterließ. Sie warf einen kurzen Blick darauf und bemerkte, dass sich die weißen Lagen Mull langsam aber sicher wieder mit Blut tränkten; eilig zog sie den Ärmel darüber und blickte Jake an der die Stirn runzelte.
   „Was hast du bis jetzt gefunden?“, fragte sie hoffnungsvoll.
   „Leider nicht viel. Ich komme nur langsam voran.“, brummte er und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Du solltest den Verband wechseln. In meinem Rucksack sind frische Mullbinden.“
Sie nickte nur stumm, kramte das Gesuchte hervor und verschwand in Richtung Toiletten. Jake blickte ihr besorgt nach und machte sich schließlich wieder an die Arbeit.

   Cat schaute sich in dem alten Spiegel an und versuchte zu verstehen, wer sie daraus ansah. Sie nahm alles so seltsam scharf wahr. Ihre Haare schienen noch auffälliger, die Ringe unter ihren Augen noch dunkler und das seltsame Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, noch deutlicher zu sein. Irritiert blinzelte sie, als ihr wieder einfiel, was sie hier überhaupt wollte. Langsam und mit leicht zitternden Fingern wickelte sie die Binde von ihrem Handgelenk. Als sie endlich fertig war, warf sie den Mull auf den Rand des Waschbeckens und versank beinahe im Anblick des mit ihrem Blut getränkten Haufen weißen Stoffes, bis sie ein seltsames Gefühl aus den Gedanken riss.
   Sie starrte auf ihr Handgelenk und erkannte, dass einer der kleinen Blutstropfen, die sich rings um die schaurigen, schwarzen Ornamente auf ihrer Haut bildeten, ein rotes Rinnsal auf ihrem Unterarm hinterlassen hatte. Das Blut glänzte ungewöhnlich dunkel. Fast wie mit schwarzer Tinte vermischt. Plötzlich konnte sie den Anblick nicht mehr ertragen, drehte kurzerhand das Wasser auf und hielt ihr Handgelenk darunter.


   Im nächsten Moment explodierte der Schmerz darin. Sie schrie gellend auf und taumelte, wie vom Schlag getroffen, rückwärts vom Waschbecken weg, bis sie mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Wand stieß. Fassungslos starrte sie auf ihren Unterarm und meinte ein leises Zischen zu hören, während winzige Dampfschwaden davon aufstiegen. Sie glaubte den Verstand zu verlieren, doch Sekunden später war der Spuk vorbei und auf ihrem Handgelenk prangten nur noch die rot umrandeten, schwarzen Muster. Der Schmerz schien dumpf von ihrem Arm bis in den Kopf zu pochen. Benommen wickelte sie die frische Binde darum, verließ aschfahl die Toilette und kehrte zu Jake zurück.

  Als sie mit dem Auto durch das Stadtzentrum zurück zu Jakes´ Wohnung fuhren, versuchte Cat sich das Gesicht des Fremden wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber sie war so erschöpft, dass beinahe alles an seinem Bild verschwamm. Alles – bis auf seine Augen. Dieser Blick mit dem er sie fixiert hatte, ließ sie nicht mehr los. Dieser Blick mit dem er sie fixiert hatte, ließ sie nicht mehr los. So hing sie lange Zeit schweigend ihren Gedanken nach. Schließlich schien sie plötzlich förmlich zu erwachen. Sie schaute verwundert auf die Uhr im Armaturenbrett und bemerkte, dass Jake hinter einem haltendem Bus stand und sie deshalb warten mussten. Sie beobachtete die Menschen auf dem Bürgersteig und erschrak auf einmal so sehr, dass sich ihr Körper verkrampfte.
  An eine Hauswand gelehnt, neben dem Bus stand er wieder und beobachtete sie aufmerksam. Er schien beinahe ein wenig fasziniert von ihr. Sie schnappte nach Luft, sodass Jake aufsah und ihr überrascht den Kopf zuwandte, als der Bus vor ihnen gerade mit einem Ruck anfuhr und der verkehr sich wieder in Bewegung setzte. Entsetzt starrte sie den Fremden an, bis Jake an der Kreuzung abbog und er damit aus ihrem Blickfeld verschwand. Ihr wurde schwindlig und sie spürte, wie die Wunde an ihrem Handgelenk die Binde stetig und unaufhaltsam mit dem dunklen, schwarz-rotem Blut tränkte.
  Erst jetzt fasste sie sich ein Herz und begann stockend von den Ereignissen in der Bibliothek zu erzählen. Jake hörte schweigend zu und als sie fertig war, parkte er gerade vor dem Wohnblock. Sie blickte ihn hilfesuchend an.
   „Komm erstmal mit nach oben. Du solltest dich unbedingt hinlegen, so blass wie du schon wieder aussiehst.“
   „Okay. Danke!“, antwortete sie nur und schweigend machten sie sich auf den Weg nach oben. Der nächste Schreck erwartete sie an Jakes Wohnungstür. Das Runenmuster, welches noch vor wenigen Stunden auf dem Lack zu sehen gewesen war, war verschwunden. Der Lack schien vollkommen unversehrt, so als hätten die schwarzen Linien nie existiert. Cat fühlte sich immer unwohler. Unsicher betrat sie die Wohnung, während Jake noch die Tür untersuchte.
   „Wie kann es sein, dass man von diesen komischen Zeichen nicht einmal mehr Schatten sieht?“, fragte Jake von der Tür aus.
   „Ich weiß es nicht. Aber es waren definitiv dieselben Zeichen wie auf dem Zettel, den ich in der Höhle bekommen habe.“
   „Bist du sicher, dass dieser Zettel für dich gedacht war?!“
   „Wenn du damit indirekt nach Beweisen fragst; ich habe keine.“
   „Heißt also, dass dieser Terror auch mir gelten könnte...“
   „Ich weiß nicht. Irgendetwas sagt mir, dass ich diese Symbole schon einmal gesehen habe.“
   „Bleibt nur noch die Frage, wo und was sie bedeuten.“, schloss Jake mit einem Seufzen.
Cat hatte sich auf des Sofa fallen lassen. Sie hatte sich selten so erschöpft gefühlt, wie heute. Da sie Jake durch die Lehne hindurch nicht sehen konnte, lauschte sie ganz den Geräuschen des Hauses. Als er die Tür endlich schloss, klang alles nur noch gedämpft.
    „Soll ich Tee kochen?“ fragte er, während er den Wohnungsschlüssel auf die Kommode warf.
    „Danke, hast du noch deinen Minztee?“
    „Klar.“
   „Also wenn ich den Tag heute zusammenfassen darf, um einen...“ Sie brach ab, als ein Hustenanfall ihren Körper zittern ließ. Jake steckte stirnrunzelnd den Kopf durch die Tür des Wohnzimmers und musterte sie aufmerksam. Ihm gefiel diese Geschichte ganz und gar nicht.

  Still lächelte er in sich hinein. Es amüsierte ihn, wie fassungslos die Novizin ihn in ihrer Unwissenheit angestarrt hatte. Es würde nicht mehr lange dauern bis das Gift seine Wirkung in ihrem Körper vollends entfaltet hatte und dann hätte sie ihm auch nichts mehr entgegen zu setzen und er könnte seinen Auftrag vollenden. Er musste in der Tat vorsichtig sein. Man hatte ihn gewarnt, durch ihren langen Aufenthalt außerhalb könne man das Ausmaß ihrer Kräfte nicht einschätzen, geschweige denn ihre Kontrolle darüber.
   Schon als er sie beobachtet und alles in die Wege geleitet hatte, war ihre Macht zu spüren gewesen. Sie verbarg sie nicht. Und allen Unwissenden flößte dies unterschwellig Respekt und Ehrfurcht ein. Das war einer der Gründe, weshalb sie nur wenige soziale Kontakte unterhalten hatte. Aber es erleichterte seine Aufgabe. Je weniger Menschen nach ihr suchen würden, desto besser.
   Er hatte wieder auf seinem Beobachtungsposten Stellung bezogen und sah durch die Fensterfront, wie sie sich auf dem Sofa niederließ. Sie sah blass aus.
   „Gut.“, dachte er. „Ihr Freund kann sie noch so umschwärmen, das wird sie nicht retten...
Herablassend beobachtete er das abendliche Treiben in der Wohnsiedlung doch sein eigentliches Interesse galt ihr, wenngleich sie sich auch kaum noch regte. Erst lag sie noch auf dem Sofa und sprach mit Jake, dann verschwanden beide aus dem Wohnzimmer. Er in die Küche und sie ins Badezimmer. Ihm fiel die Wirkung des Giftes wieder ein und fast tat sie ihm leid. Schließlich hatte sie keine Ahnung davon, wie heftig das Mal mit Wasser reagieren konnte. Er vermutete, dass sie erneut ohnmächtig werden würde und war schon gespannt auf das Gesicht ihres Freundes.
  Umso erstaunter war er, als sie mit tropfenden Haaren, in ein Handtuch gewickelt wieder ins Wohnzimmer tappte. Zwar war sie noch bleicher als sonst, doch sie stand aufrecht und zitterte nicht. Sie zog sich hinter der Schranktür versteckt um und nahm dann wieder ihren Platz auf dem Sofa ein. Nur wenige Minuten später war sie eingeschlafen. Als Jake sie aus der Küche kommend so sah, hob er sie vorsichtig auf und trug sie ins Schlafzimmer.
   Mit gewissem Argwohn reckte er seine Glieder und stand von seinem Beobachtungsposten auf. Verärgert machte er sich auf den Weg zu dem zweiten Posten. Sein Auftrag war in dieser Hinsicht eindeutig und er konnte sich keine Fehler leisten. Auf halbem Wege wurde er so abrupt überrascht, dass sein Körper eine Millisekunde länger brauchte, als sonst. Wie sich herausstellte zum Glück des Anderen, der sich ihm in den Weg stellte. Es hätte sein Ende sein können.
   Es war ein Läufer. Er kannte ihn und nachdem er die an ihn gerichtete Botschaft in Empfang genommen und seinen Bericht abgegeben hatte, verschwand die Gestalt wieder geräuschlos in den Schatten. Er selbst bezog seinen neuen Posten und begann mit der Wache.



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